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Rollkur und Co. - warum? Ein Versuch, durch Selbstreflexion Antworten zu finden

In diesem Text beschäftige ich mich mit der Frage, warum Reiterinnen und Reiter die Grenzen von Fairness und des Respektes dem Pferd gegenüber überschreiten.

Warum werden Methoden wie z. B. die Rollkur immer noch praktiziert, obwohl längst bekannt und belegt ist, was sie beim Pferd anrichten kann? Und doch scheint sie zielführend zu sein. Denn es gibt ReiterInnen, die diese Methode anwenden und damit sehr erfolgreich sind.

Vielleicht finde ich Antworten auf dieses "Warum?" am ehesten, wenn ich meinen eigenen Werdegang und meine Entwicklung als Reiter und Mensch genauer unter die Lupe nehme.

Alles ist möglich . . .

Im Menschen sind wohl alle Möglichkeiten des Handelns angelegt. Dieses Handeln zu erforschen und aufzuzeigen, was ich in meinem Werdegang gegenüber Pferden falsch gemacht habe und wo meine Beweggründe dafür gelegen haben mögen, hilft mir Klarheit und Verständnis für mein Handeln zu erlangen, mich weiterzuentwickeln und meinen Beruf und meine Berufung ihrem Ziel näher zu bringen.

Mit dieser Selbstreflexion möchte ich mich selbst noch einmal besser verstehen, wünsche mir aber auch, dass sie zum Nachdenken anregt und vielleicht den einen oder anderen Reitenden aus Sport und Freizeit dazu bewegt, sein eigenes Handeln zu hinterfragen und bei Bedarf zu verändern.

Früher

Wenn ich auf die ersten zehn Jahre meines professionellen Weges zurückblicke, empfinde ich keineswegs nur Stolz. Viele Male habe ich in dieser Zeit die Grenzen der Fairness und des Respektes dem Pferd gegenüber überschritten.

Heute suchen mich ReiterInnen und PferdebesitzerInnen auf, weil sie von mir gehört haben als einem achtsamen, respektvollen und erfahrenen Ausbilder und Reitlehrer. Doch wie gesagt, das war nicht immer so. Manchmal muss man vielleicht erst in die eigenen Abgründe blicken, um sich für das Lichte zu entscheiden.

Damals

Vor exakt vierzig Jahren begann ich als junger Mann meine Ausbildung zum Bereiter, angetrieben von der Liebe zu diesen wunderbaren Wesen und ihrer Eigenschaft, sich uns Menschen neugierig und offen zuzuwenden.

Taub geworden

Eigentlich war ich schon damals ein eher einfühlsamer und empathischer Mensch, und viele Dinge, die ich während dieser Jahre meiner Reitsportlaufbahn sah und erlebte, hätten mich schreien, toben und weinen lassen müssen. Doch zu dieser Zeit war das keine Option.

So stumpften meine Empathie und mein Mitgefühl langsam ab, und irgendwann hörte ich die Stimme meines Gewissens und des «kleinen Jungen» in mir, der Pferde so sehr liebte, nicht mehr. Ich schütze mich durch Taubheit.

Der Deal

Stattdessen bestimmten mein Ehrgeiz und die Angst, nicht zu genügen, wo es langging. Beruflich hatte ich schon sehr bald erste Erfolge zu verzeichnen, und mit meinen Kunden und Gönnern bestand die Vereinbarung, dass sie mir ihre Pferde zur Verfügung stellten, um es mir zu ermöglichen, meinen Traum, Weltmeister im Dressurreiten zu werden, zu verwirklichen. Umgekehrt sollte ich mit ihren Pferden erfolgreich sein.

Vom Umgang mit Grenzen

Doch immer wieder stiess ich an die Grenzen meines eigenen Könnens, und sobald diese erreicht waren, begann ich an mir selbst zu zweifeln, geriet unter Druck und bekam Angst, weder die Erwartungen meiner Kunden und Sponsoren noch meine eigenen erfüllen zu können.

Gefühle der Inkompetenz und Ohnmacht stiegen in mir hoch - und was tat ich? Genau das, was in meinem Umfeld zu dieser Zeit so üblich war, ich reagierte mit erhöhtem Druck auf meine Pferde. Dazu bediente ich mich fragwürdiger (Hilfs-) Mittel und Techniken, die mir das Gefühl von Macht und Kontrolle zurückgaben und mich ein Stück weit aus meiner Inkompetenz und Ohnmacht befreiten.

Wieder «Herr der Lage»

Dank dieser Hilfsmittel gelang es mir, die Oberhand zu behalten und die Herrschaft über die Pferde zurückzugewinnen. Wieder «Herr der Lage» zu sein befreite mich aus dem Gefühl der Unzulänglichkeit und gab mir den Glauben an mein vermeintliches reiterliches Können zurück.

Endlich . . .

Es war wie das Erwachen aus einem bösen Traum, als ich Jahre später in einem Moment der Verletzlichkeit realisierte, wohin mich dieser Weg geführt hatte.

Eines Tages sass ich nach einem ziemlich harten Training von meinem Pferd ab, blickte in sein Gesicht, und da traf es mich wie ein Schlag. Aus jedem seiner Augen lief eine Träne! Vielleicht war es auch nur Schweiss, doch eine Welle der Traurigkeit und Scham durchflutete mich. Wenige Tage später verabschiedete ich mich von meinem Weltmeister-Traum, und mit ihm fielen unendlich viel Druck und Taubheit von mir ab.

Eine neue Chance

Seither, und für diesen Moment bin ich sehr dankbar, bin ich Seite an Seite mit den Pferden und nicht mehr gegen sie. Ich gebe mein Bestes, sie in ihrem Dasein als Pferd und Reitpferd zu fördern und dabei ihre Freundschaft zu gewinnen und ihre Würde zu bewahren.

Wenn ich heute ganz ehrlich mit mir bin, erkenne ich, dass ich auf der Suche nach Anerkennung und Erfolg, meine eigenen empathischen Wahrnehmungen soweit unterdrückt habe, dass ich die Bedürfnisse meiner Pferde nicht mehr anerkennen und wahren konnte.

Damals besass ich nicht die innere Grösse, meine eigenen Grenzen würdevoll anzunehmen, sondern habe den auf mir lastenden Druck an die Pferde weitergegeben. Mein Verlangen nach Glücksmomenten und Anerkennung, ausgelöst z. B. durch einem Podestplatz und die damit verbundene Ehre, war stärker als ethische Bedenken. Aber wo bleiben, wenn wir als Reitende so agieren, die Glücksmomente und die Ehrung der Pferde?

Hilfsmittel - für wen . . . ?

Was geschieht bei Anwendungen wie der Rollkur mit ihrem Weitblick, ihrer Hochsensibilität und ihrer Empfindsamkeit? Was geschieht mit ihrer Neugierde, ihrer Ausstrahlung und ihrem Vertrauen? Haben diese Methoden jemals ein Pferd wirklich konzentrierter und motivierter gemacht oder vielleicht doch nur gefügiger? Hat ein Pferd dadurch jemals an Sicherheit und Selbstvertrauen gewonnen? Oder können wir sie dadurch nur leichter dominieren und kontrollieren so dass wir nicht an unseren Fähigkeiten zweifeln oder unsere Kompetenz hinterfragen müssen?

Diese Fragen habe ich für mich mittlerweile beantwortet, und jeder, der sich auf diesem Weg befindet, darf dies auch für sich tun. Denn trotz vieler Reglemente, was heute noch getan werden darf und was nicht, und wenn doch, wie lange, halten sich viele fragwürdige Methoden nach wie vor hartnäckig.

Eine Frage der Wahl . . .

Verordnungen, Gesetze und Androhung von Strafe tragen ihren Teil dazu bei, Pferde besser vor Ausbeutung zu schützen. Wirklicher Wandel geschieht jedoch nur durch Einsicht und radikale Ehrlichkeit bei jedem einzelnen. Schlussendlich geht es doch täglich und immer wieder neu um eine Wahl, die wir bewusst oder unbewusst treffen:

Entscheide ich mich dafür, meine Vorstellungen und meinen Willen durchzusetzen, oder entscheide ich mich dafür, mich in den Dienst des Pferdes zu stellen und empathisch, freundschaftlich und verletzlich zu bleiben?

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